Der Wahrheit verpflichtet
14. September 2025 - Paul Siegenthal 1

Die Abstiegsgesellschaft und der Paolo-Prollo-Style

Paul Siegenthal
Tattoos, Jogginghose, Minimalismus: Die Mittelschicht übernimmt zunehmend den Paolo-Prollo-Style der sozialen Unterschicht – wenn der Abstieg kommt, erklärt man ihn neuerdings also einfach zum Trend. Das verheißt nichts Gutes. – Ein Kommentar von Paul Siegenthal, lic. oec. HSG

Arme Leute orientierten sich einst gerne an den Eliten. Sie leisteten sich einen Kronleuchter, den sie in der Arbeiterwohnung an die niedrige Decke hingen, wo sich jeder den Kopf anhauen konnte. Sie kauften sich Geschirr einer bestimmten Marke, weil die Königin es verwendete. In den letzten 50 Jahren beobachten Anthropologen jedoch das umgekehrte Phänomen: Trends aus der Unterschicht werden von darüberliegenden Klassen übernommen.

Beispiel: Tattoos

Früher ließen sich nur Knastis tätowieren. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, sozialer Aufstieg war für sie nicht möglich. Heute ist fast jeder unter 45 Jahren nur noch eines: tätowiert. Sobald er oder sie einen Geistesblitz traf, wurde dieser auf der Haut verewigt.

Manieren überflüssig

Alle duzen sich plötzlich wie selbstverständlich. Von Tischsitten haben die Jugendlichen noch nie gehört. Warum auch? Schlussendlich sitzt man doch neben dem  Chav im McDonald’s oder in der Pizzeria.
Auf dem Bahnsteig begegnet man der üppigen Maid mit künstlichen Wimpern und Fingernägeln, in Kampfstiefeln und Leggings. Neben ihr stehen Gopniks mit syrischen Frisuren, Baseballkappe und Bart. Er trägt Sneakers vom Lidl, Jogginghose und einem fetten Bauch unter einem T-Shirt, Marke «Boxeur des Rues». Wer erinnert sich noch, wie die Menschen vor 50 Jahren gekleidet waren?

Prolo-Lifestyle

Dann liest man die Reportage von einem Unternehmer, der mit nur 115 Objekten lebt (Minimalismus). Das ledige Sternchen X präsentiert ihr neues Baby, dessen Vater sie aber nicht verraten will (Single-Mom). Ein Fotomodell gibt Einblick in ihr Stealth-Van-Life fernab aller gesellschaftlichen Zwänge. Eine Journalistin arbeitet von Portugal aus an der Sonne als digitale Nomadin. Noch vor wenigen Jahren hätte man diese Existenzen als Heuchler, Schlampe, Obdachlose und Vagabundin bezeichnet.
Der linksgrüne Mainstream feiert diese Traumtänzer als «das neue Normal»: authentisch, fortschrittlich, umweltbewusst, weltoffen, modern und zeitgemäß. Dahinter verbirgt sich eine verheerende Erkenntnis, die explosiver nicht sein könnte: Die Gesellschaft geht ihrem Ende entgegen.

Ende der sozialen Mobilität

Obere Schichten übernehmen Verhaltensweisen und Lebensstile unterer Schichten, wenn der soziale Aufstieg nicht mehr möglich ist und der soziale Abstieg droht.
Einige empfinden es dennoch als erniedrigend, wenn sie sich im Flieger in die engen Sitze der Holzklasse zwingen müssen. Hier kommt den Medien eine wichtige Rolle zu: Sie erzählen der Bevölkerung, dies sei ein neuer Trend und man schütze so das Klima.

Ökobewusstsein als Rechtfertigung des Abstiegs

Irgendwie möchte man sich dann doch vom Pöbel im Nachbarsitz abgrenzen. Wir haben kein Auto und benutzen stattdessen das Lastenrad (Virtue Signaling). Schließlich ist man nicht materialistisch eingestellt, man zahlt mit Überzeugung den freiwilligen CO2-Zuschlag für das Klima.
Seit Monaten macht eine Schweizer Zeitung Werbung für die «zeitgemäße Art», sich ein Auto mit anderen zu teilen. Dazu gibt es Testimonials von gecasteten Schauspielern und Expertenmeinungen. Fakt ist, dass sich immer weniger überhaupt ein eigenes Auto leisten können.

Rückkehr zur Monarchie

Ist es womöglich sogar das Ende jeder sozialen Mobilität? Natürlich hofft jeder, dass die soziale Mobilität irgendwann wieder hergestellt wird.
Hier zeigt sich deutlich, wie die Mainstream-Medien sich zur neuen Kirche entwickelt haben. Journalisten – die Priester des Medienzeitalters – werden uns weiterhin Menschen präsentieren, die es angeblich geschafft haben. Vor Kurzen erfuhr die Öffentlichkeit beispielsweise, dass Roger Federer Milliardär geworden ist. Die Botschaft lautet: Schaut her, es geht doch.
Hoss & Hopf und Co. organisieren Seminare, in denen sie zeigen, wie man «es schaffen kann», wenn man seine Einstellung ändert. Leider ist es nicht so einfach.
Die Geschichte belehrt uns eines Besseren. Soziale Mobilität fand nur statt, wenn eine untere soziale Klasse die darüberliegende physisch eliminierte. Das geschah sehr selten (Französische Revolution, Russische Revolution, Großer Sprung nach vorn in China). Was einst als Aufstiegsträume begann, endet heute in der Selbsttäuschung einer Gesellschaft, die ihren eigenen Niedergang feiert: Früher wollte man die Kronleuchter der Reichen – heute verkauft man den Kerzenstummel als Lifestyle.

 

Lieber Leser, teilen Sie hier die Meinung unseres Kommentators, dass die postmoderne Bevölkerung sich – und dies nicht nur in Sachen Mode – nach unten orientiert? Oder sehen Sie das ganz anders? Lassen Sie es uns in den Kommentaren wissen!

 

© Bild und Montage: Paul Siegenthal

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