Madrid 1973. «ABAJO LA DICTADURA» (Weg mit der Diktatur) stand mit großen Majuskeln an der Rückwand der Markthalle. Hier befand sich ein großer Park. Alle sahen die anderthalb Meter hohen, roten Lettern von weitem.
Franco mochte solche Anschriften in der Hauptstadt nicht. Es suggerierte Unzufriedenheit. Nun ja, da waren die Qinquis, eine Art Zigeuner, die weder ein Instrument spielen noch singen konnten. Sie hielten sich mit kleinen Diebstählen, Hütchenspielerei und dem Schwarzmarkt über Wasser. Schlimmer waren die Basken. Als Mineure sprengten sie nicht nur Stollen in den Berg. Wenn sie wirklich böse sein wollten, jagten sie einen ihrer Kracher während der Siesta in die Luft. Das mochten die Leute gar nicht.
Diese Schmierfinken waren aber auch nicht lustig. Stehen lassen konnte man die Schrift nicht. Das Volk hätte es als Schwäche ausgelegt. Also mussten parteitreue Maler ran. Sie kamen ein paar Tage später und begutachteten den ewig gleichen Spruch. Sie hatten herausgefunden, dass es am einfachsten war, ein Rechteck um jeden Buchstaben zu malen, diesen in der Mitte zu teilen und dann nochmals die 4 Ecken mit einer Diagonale zu verbinden. Der Schriftzug war dann nicht mehr lesbar – obwohl natürlich alle wussten, was darunter stand. Auf jeden Fall: die Wand war versaut.
Das ging alles so lange gut, bis eines Tages die Hausmauer von General Rodriguez verschmiert war. Er sah aus wie alle anderen Generäle. Der riesige Bauch steckte in einer Uniform, um die eine Schärpe hing. Zuoberst war ein Hut aufgesetzt, unterhalb dessen sich eine Glatze befand. Links und rechts waren noch ein paar Haare, die Richtung Nacken gekämmt und mit Vaseline fixiert waren. Unter der Sonnenblende der Generalsmütze war eine fette viereckige Hornbrille. Die Mundwinkel hingen 90 Grad nach unten und endeten kurz vor dem beachtlichen Doppelkinn. Es gab ihn in zwei Ausführungen: mit Sonnengläser und ohne.
General Rodriguez muss in seiner Jugend ein heißer Typ gewesen sein, als er die Jacinta freite, die aus einem Adelsgeschlecht stammte. Immerhin erhielt er noch ein gutes Stück Land mit in die Ehe, auf das er ein mehrstöckiges Haus stellte.
Und nun diese Schmierereien an seinem Eigentum! Seine Beziehungen reichten weit in die Stadtregierung hinein. Diese ließ ihn aber wissen, dass das Geld nur für die Übermalung reiche und nicht für die ganze Wand.
Am liebsten hätte er die Schmierfinken vor ein Exekutionskommando gestellt, aber das Regime war altersmüde geworden. Man wollte sich so kurz vor dem jüngsten Gericht nicht noch die Hände schmutzig machen.
Doch nicht mit General Rodriguez! Er hatte schon ganz andere Schlachten geschlagen. So fuhr er in die Moncloa, wo jeweils am Mittwoch die Regierung zu einer unchristlichen Morgenstunde im Morgengrauen – also so etwa gegen 9:30 Uhr – tagte. Begleitet wurde er von einer Abordnung der parteitreuen Malermeister im Frack mit Taschen voller Dankbarkeit.
In den Abendnachrichten wurde der Bevölkerung mitgeteilt, dass die Regierung beschlossen habe, die Schmierfinken unerbittlich zu jagen. Die Wände würden ab jetzt neu grundiert und frisch übermalt. Der Regierungssprecher wünschte der Bevölkerung eine gute Nacht und ermahnte sie, früh ins Bett zu gehen, um Energie zu sparen. Es war ja gerade Ölkrise. Der Babyboom kam erst Monate später.
Tage vergingen. Nachts wurde in den Notrufzentralen geschlafen. Medizinische Notfälle gab es in Spanien kaum. Rief der Herr und war die «San Fermin» (Todesfallversicherung) bezahlt, beugte man sich lieber seinem Willen als die ganze Nachbarschaft mit Sirenengeheul zu wecken. Außerdem hatte man sowieso zu wenig Platz in der Wohnung.
Dann wurde eine weitere Schmiererei gemeldet, dann noch eine und noch eine ... Ganze Heerscharen von Regimekritiker schienen über Nacht in der Hauptstadt eingefallen zu sein. Und es wollte nicht aufzuhören – wahrscheinlich stand ein Aufstand bevor. Dann waren auch Städte betroffen, die selbst in dunkelsten Stunden nicht von der Seite des Caudillios wichen. Die Bevölkerung hatte Angst. Kriechen jetzt wieder die Kommunisten aus den Löchern? Konnten die nicht wenigstens warten, bis der Allmächtige ihn vor den Himmelspforten empfing?
Sechs Wochen später hob die Regierung ihren Beschluss wieder auf. Der Regierungssprecher gab bekannt, dass alle Schmierfinken gefasst seien und das Übermalen nun gänzlich eingestellt werde. Er wünschte der Bevölkerung wieder eine gute Nacht und ermahnte sie, früh ins Bett zu gehen, um Energie zu sparen. Es war ja gerade Ölkrise.
Tatsächlich, es gab keine neuen Schmierereien.
So geht Politik!
Der Maler um die Ecke hatte 6 Wochen lang Tag und Nacht gearbeitet. Nachts mit roter, am Tag mit grauer Deckfarbe. Mit dem Geld bestellte er den etwas grösseren SEAT 850 E (E für Especial, also den mit Tourenzähler und verchromten Radkappen).
Er brauchte ihn auch: seine Frau war wieder schwanger.
Lieber Leser, liebe Leserin was denken Sie über diese satirische Anleitung zur Zensur? Lassen Sie es uns in den Kommentaren wissen!
© Bild: Paul Siegenthal