Der Wahrheit verpflichtet
04. August 2025 - Redaktion

«Die e-ID steht den Grundwerten der Schweiz diametral entgegen» – Journalist Tom-Oliver Regenauer warnt vor Risiken der digitalen Identität

Redaktion
Am 28. September 2025 stimmt die Schweiz erneut über die Einführung einer elektronischen Identität (e-ID) ab. Bereits 2021 hatte das Volk das Vorhaben klar abgelehnt. Im Gespräch erläutert Digitalexperte Tom-Oliver Regenauer, warum er die neue Vorlage trotz Verbesserungen für hochriskant hält.

Das vorliegende Interview wurde als Spende für HOCH2 von D. G. verschriftlicht, gekürzt und gestrafft. Das gesamte Interview in Videoform können Sie HIER anschauen.

Istvan Hunter

Herr Regenauer, vielen Dank, dass wir mit Ihnen ein Interview zum Thema e-ID machen dürfen.

Es handelt sich um die umstrittene Abstimmungsvorlage am 28. September 2025 über die e-ID, zu der die Schweizer Bevölkerung schon zum zweiten Mal ein Referendum ergriffen hat. 2021 hat die Mehrheit der Bevölkerung die elektronische Identität e-ID schon einmal klar abgelehnt.

Zum besseren Verständnis: In der Schweiz kommt ein Volksreferendum so zustande, dass die Bevölkerung gegen jedes Gesetz innerhalb von 100 Tagen 50'000 Unterschriften sammeln kann. Wenn die Unterschriftenzahl erreicht ist, muss darüber abgestimmt werden, damit das Gesetz rechtskräftig wird. Der Bundesrat beschreibt diese e-ID folgendermaßen:

Mit der elektronischen Identität (e-ID) können Schweizerinnen und Schweizer sowie Personen mit Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz ihre Identität online nachweisen. Frühestens im dritten Quartal 2026 wird der Bund die e-ID in der Wallet-App swiyu ausstellen. Die Vertrauensinfrastruktur ermöglicht es auch anderen Behörden und Privaten, elektronische Nachweise auszustellen.

Das klingt doch eigentlich wunderbar. Spricht aus Ihrer Sicht etwas gegen eine solche Vertrauensinfrastruktur des Bundes?

Tom-Oliver Regenauer

Ja, grundsätzlich sollte man hinterfragen, warum man ein zweites Mal ein Referendum ergreifen muss, wenn die Vorlage bereits in der ersten Abstimmung abgelehnt wurde. Offenbar setzt man sich hier über den Willen der Bevölkerung hinweg. Damals war das Hauptargument – soweit ich mich recht erinnere – dass die e-ID in private Hände gegeben werden sollte und die Vertrauensbasis für den Anbieter nicht gegeben war. Außerdem gab es Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes.

Das ist auch heute das zentrale Argument. Wenn man eine Pro- und Kontra-Liste erstellt und prüft, welche Vorteile und Risiken bestehen, fällt das Ergebnis deutlich aus. Der einzige Vorteil, der genannt wird, ist im Prinzip das, was Sie vorgelesen haben: Man kann damit online seine Identität bestätigen und Behördengänge vereinfachen. Das wird als bequem und effizient dargestellt.

Wer jedoch – wie ich – viele Länder kennt, weiß, dass die Verwaltung in der Schweiz bereits sehr effizient funktioniert. Es gibt kaum ein Land auf der Welt, das ich kennengelernt habe, dessen Verwaltung annähernd so gut organisiert ist wie die der Schweiz. Das Effizienzargument überzeugt daher nur bedingt. Auf der anderen Seite zeigen die letzten zehn bis fünfzehn Jahre, wie viele Datenschutzpannen, Datenlecks und Hackerangriffe es gab, bei denen Nutzerdaten im Darknet auftauchten – sei es bei Facebook, Cambridge Analytica oder anderen.

Daher sehe ich das Thema aus zwei Gründen äußerst kritisch: Erstens, weil bereits ein Referendum abgelehnt wurde und die Bevölkerung keinen Bedarf sieht. Zweitens, weil die e-ID ein enormes Risiko für Privatsphäre, Datenschutz und Missbrauch birgt. Selbst wenn man dem Bundesrat gute Absichten unterstellt, bleibt das Problem, dass private Infrastrukturen Missbrauch ermöglichen. Selbst staatliche Systeme sind nicht vollständig sicher. Am Ende läuft vieles über Cloud-Lösungen und Internetinfrastruktur, die – sofern man nicht in einem Hochsicherheitsterminal sitzt – immer von Hackern bedroht sind. Diese sind in der Regel einen Schritt voraus. Daher gibt es zahlreiche Risiken, weshalb ich die Vorlage sehr kritisch sehe.

Ein letzter Punkt: Es wird argumentiert, dass das Ganze freiwillig sei. Das Beispiel der Schweizer Post zeigt aber, dass Freiwilligkeit schnell in Zwang umschlagen kann. Die SwissID ist mittlerweile für den Zugriff auf gewisse Dienste zwingend, obwohl ich diese gar nicht möchte. Heute kann ich mich ohne SwissID nicht mehr einloggen, um Pakete umzuleiten oder Zustellungen zu ändern. Mein Konto ist damit faktisch unbrauchbar. Am Ende mag es freiwillig sein, aber ohne diese Dienste ist man benachteiligt. Diese Entwicklung halte ich für problematisch.

Istvan Hunter

Ja genau. Sie haben bereits viele Punkte angesprochen. Die Befürworter der Vorlage sagen, dass 2021 nicht die e-ID an sich infrage gestellt wurde, sondern nur deren damalige Ausgestaltung. Die neue Version sei korrigiert und sicherer. Einerseits soll sie Behördengänge ermöglichen, andererseits bei Altersverifikation am Kiosk, bei Computerspielen, beim Online-Einkauf und beim Jugendschutz helfen.

Das Referendumskomitee argumentiert dagegen, dass die analoge Identitätskarte für alle diese Dienstleistungen besser geeignet sei. Sie sei sowohl in Bezug auf Datensparsamkeit als auch auf Sicherheit der e-ID überlegen. Wie sehen Sie diesen Punkt?

Tom-Oliver Regenauer

Das sehe ich genauso. Es gibt bereits eine völlig ausreichende Infrastruktur, die den Identitätsnachweis im Internet ermöglicht. Zudem haben wir Verfahren wie die Zwei-Faktor-Authentifizierung. Wenn Sie heute mit der Kreditkarte online bezahlen, wird fast immer eine zusätzliche Verifizierung über das Smartphone verlangt – sei es über die App der Bank oder per SMS-Code. Damit ist man eindeutig identifiziert. Diese Argumentation, dass die e-ID die Online-Identifikation sicherer macht oder bequemer gestaltet, ist schlicht nicht zutreffend.

Anfangs wird die e-ID wohl freiwillig sein, doch mit der Zeit werden Unternehmen und Behörden verstärkt darauf setzen. Wer sie nicht hat, wird es irgendwann unbequem haben. Man wird sich wie heute bei der Post möglicherweise nicht mehr bei der Bank anmelden oder Termine online vereinbaren können, wenn man keine e-ID-Nummer besitzt. Die Dinge werden so lange unpraktisch gemacht, bis die Nutzung faktisch verpflichtend wird. Wer nicht mitmacht, verliert den Zugang zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen. Ich sehe daher kein einziges stichhaltiges Argument, das wirklich für die e-ID spricht.

Istvan Hunter

Im Alltag wird kaum die e-ID verlangt, und auch nicht gespeichert. Das heißt, es fallen so wenig Daten an. Mit der e-ID befürchten Kritiker hingegen, dass unnötig personenbezogene Daten wie Namen, Geburtsdaten, AHV-Nummern oder biometrische Gesichtsbilder gespeichert werden – ein unnötiges Sicherheitsrisiko. Der Bundesrat betont jedoch, dass keine unnötigen Daten erhoben werden. Ein klarer Widerspruch.

Tom-Oliver Regenauer

Ja, selbst wenn man davon ausgeht, dass diese Daten nicht dauerhaft gespeichert werden, so werden sie doch irgendwo erfasst und übertragen. Alles im Internet hinterlässt Spuren – einen digitalen Fussabdruck in irgendeiner Datenbank oder auf irgendeinem Server. Es wird immer Randeffekte geben, bei denen Daten abgreifbar sind.

Schaut man sich die e-ID in der EU an, wird klar: Deutschland führt mit der neuen Regierung ebenfalls eine e-ID in der Bürgerwallet ein. Bald wird daran weit mehr hängen als nur die e-ID selbst: elektronische Patientenakten, Führerscheine, digitale Zahlungsmittel. Egal, ob es sich um Stablecoins, digitale Privat- oder Zentralbankwährungen handelt – am Ende versucht man, alle Daten des Bürgers in einem Wallet zu bündeln. Solche Datenpools sind ein exorbitantes Risiko! Jeder IT-Sicherheitsexperte weiss: Je weniger Daten erhoben werden, desto sicherer ist das System.

Wenn ich schon eine bestehende, funktionierende Infrastruktur habe, mit der ich mich online ausweisen kann, dann ist die e-ID nicht nur unnötig und kostenintensiv, sondern auch ein erhebliches Missbrauchsrisiko – sei es durch den Staat, Konzerne, wirtschaftliche Interessen oder durch Hacker aus dem Darknet.

Istvan Hunter

Auch beim ersten Referendum war Datensicherheit ein zentrales Thema. Unter anderem war die Digitale Gesellschaft Schweiz daran beteiligt. Sie hat mir nun erklärt, dass sie beim zweiten Referendum keine Kampagne führt, weil das Gesetz verbessert worden sei, der Quellcode offengelegt werde und die e-ID nun nicht mehr von privaten Unternehmen herausgegeben werde. Zudem sei sie freiwillig.

Tom-Oliver Regenauer

Das mag sein, aber man muss das Ganze im Kontext seiner zukünftigen Entwicklung sehen. Wir leben bereits in einer Zeit, die man als «Algokratie» bezeichnen könnte, weil Algorithmen unser Leben zunehmend bestimmen. Jede digitale Infrastruktur wächst sich innerhalb weniger Jahre zu einem eigenen Ökosystem aus. Das Smartphone ist das beste Beispiel: 2007 gab es nur wenige Apps, heute läuft nahezu alles über Apps. Innerhalb von 15 Jahren ist eine völlig neue Welt entstanden – kontrolliert von wenigen Konzernen.

Wer glaubt, dass Daten, die einmal erfasst wurden, nicht missbraucht werden, verkennt die Realität. Sie lassen sich nicht wirklich löschen. Jeder, der sich mit IT beschäftigt, weiss, dass Daten in der Apple iCloud beispielsweise nicht endgültig entfernt werden. Gelöschte Daten sind oft nur ausgeblendet und lassen sich mit spezieller Software wiederherstellen. Diese Daten werden für Werbung, Manipulation, Wahlbeeinflussung oder andere Zwecke genutzt.

Beim Beispiel der EU hat es nicht lange gedauert, bis die e-ID mit der elektronischen Patientenakte verknüpft wurde. Es hieß, die Daten seien sicher – und doch hat der Chaos Computer Club die Systeme in kürzester Zeit gehackt.

Es geht hier nicht nur um Datenschutz, sondern auch um das Persönlichkeitsrecht jedes Einzelnen. Während Staaten weltweit zunehmend intransparent agieren, soll der Bürger immer transparenter werden. Viele Menschen geben heute freiwillig enorme Mengen an Daten preis. Mit der e-ID würde diese Transparenz nochmals massiv verstärkt.

Zusammengefasst: Es geht darum, die Privatsphäre zu schützen. Eine e-ID wird schnell mit Sozialversicherungsnummern, Social-Media-Profilen oder anderen Daten verknüpft. Die Missbrauchsmöglichkeiten sind immens.

Ich bin in die Schweiz gekommen, weil sie dezentral organisiert ist, weil das Subsidiaritätsprinzip gilt, weil Datenschutz und Pressefreiheit hier in der DNA des Landes verankert sind. Das e-ID-Gesetz steht diesen Grundprinzipien diametral entgegen. Es gibt keinerlei überzeugende Vorteile, aber eine Vielzahl von Risiken.

Ich halte die Abstimmung über die e-ID für eine der wichtigsten der letzten zehn Jahre – neben dem intransparenten EU-Vertrag. Sie betrifft die Freiheit jedes einzelnen Bürgers in diesem Land, der selbstbestimmt und mit dem Recht auf Privatsphäre leben möchte.

 

Das gesamte Gespräch in Videoform können Sie HIER anschauen. Das Video wurde am 17. Juli 2025 auf unserer Website aufgeschaltet.

 

Was denken Sie?
Schreiben Sie uns Ihre Meinung in den Kommentaren: Ist die e-ID ein Fortschritt – oder ein Risiko für die Privatsphäre?

 

15 0

Schreiben Sie einen Kommentar