Der Wahrheit verpflichtet
12. November 2025 - Paul Siegenthal

Von Melos bis Bern – Lektionen in Macht und Moral

Paul Siegenthal
Die Schweiz ringt um ihren Platz zwischen Eigenständigkeit und Anpassung an die EU. Ein Blick zurück ins Jahr 416 v. Chr. zeigt: Schon damals stand ein kleines, neutrales Gemeinwesen einem übermächtigen Bündnis gegenüber – mit fatalem Ausgang. Die Lehre der Melier wirkt bis heute. – Ein Kommentar von Paul Siegenthal, lic. oec. HSG

Unser Bundesrat täte gut daran, sich etwas mehr mit der griechischen Geschichte zu befassen. Die Rahmenverträge sind nichts als eine Kapitulation vor der EU. Der Bundesrat hat in seiner Gefallssucht im Ausland das Land geschwächt und erpressbar gemacht. Jetzt erhält das Schweizer Volk die Quittung.

Wir schreiben das Jahr 416 v. Chr.

Der Peloponnesische Krieg zwischen Athen und Sparta dauert nun schon seit 15 brutalen Jahren. Athen, das sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befindet, richtet seine Aufmerksamkeit auf die kleine, neutrale, unabhängige und wehrlose Insel Milos (Melos). Die Melier sind Nachkommen Spartas, haben sich aber aus dem Konflikt herausgehalten. Sie glauben, dass Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Vernunft sie schützen werden. Sie irren sich. Athen fordert die Kapitulation. Was folgt, ist keine Schlacht, sondern ein Gespräch: Der Melierdialog. Es ist einer der eindringlichsten Dialoge der Geschichte, aufgeschrieben durch den Historiker Thukydides.

Macht ist der Tugend gegenüber gleichgültig

Die Melier beginnen mit ihrem Glauben. Sie appellieren an die Gerechtigkeit. Sie sprechen von Fairness, göttlicher Gunst und Hoffnung. Sie sagen: «Wir sind neutral. Wir hätten niemandem Schaden zugefügt. Sicherlich werden die Götter die Unschuldigen verteidigen und die Gerechten werden nicht vernichtet werden.» Ihre Worte spiegeln den moralischen Instinkt der Menschheit wider. Sie glauben, dass Recht über Macht steht.

Die Melier sprechen als moralische Wesen in einem moralischen Universum. Aber die Athener teilen ihre Illusion nicht. Die athenischen Gesandten antworten mit einem Ton, der so kalt wie Marmor ist: «Ihr wisst genauso gut wie wir, dass Diskussionen über Gerechtigkeit nur zwischen Gleichberechtigten möglich sind. Die Starken tun, was sie können, und die Schwachen leiden, was sie müssen.»

In ihrer Stimme liegt keine Grausamkeit, nur Gewissheit. Sie nennen das Vernunft. Gerechtigkeit, so argumentieren die Athener, habe keinen Platz in Verhandlungen, in denen eine Seite das Ergebnis diktieren kann. Die Welt, so betonen sie, werde nicht von Fairness regiert, sondern von der Notwendigkeit, vom Gesetz des Überlebens selbst.

Die Melier flehen erneut. Sie rufen die Götter an, im Glauben, dass die göttliche Gerechtigkeit Athen für seine Arroganz bestrafen wird. Sie appellieren an die Ehre, in der Hoffnung, dass Mut Respekt hervorruft. Die Athener bleiben unbeeindruckt. Hoffnung ist von Natur aus der Trost der Schwachen. Die Athener warnen: «Ihr riskiert euer Leben für eine Illusion.»

Der Dialog spitzt sich zu und entzieht den Melier jede moralische Verteidigung, bis nur noch die Wahrheit übrig bleibt. Macht ist der Tugend gegenüber gleichgültig.

Das Schicksal

Als die Melier sich weigern, sich zu unterwerfen, belagert Athen die Insel. Sie zerstören die Stadt, töten die Männer und versklaven die Frauen und Kinder.

Thukydides berichtet mit erschreckender Zurückhaltung. Keine Kommentare, keine moralische Empörung, nur eine Abfolge von Ereignissen. Er wollte, dass die Leser sehen, was passiert, wenn menschliche Ideale mit der Realität kollidieren. Die Lektion handelt nicht von Grausamkeit, sondern von Klarheit. Athen tat, was es konnte. Milos erlitt, was es erdulden musste. Das ist alles.

Warum beunruhigt uns dieser Dialog so sehr? Weil er eine Sprache spricht, die wir nicht hören wollen. Die Athener sind der menschliche Geist, wenn er seine Illusionen abgelegt hat. Sie sind keine Bösewichte, sondern denken klar. Ihre ruhige Logik entlarvt die Fragilität unserer moralischen Narrative.

Wir möchten glauben, dass Gerechtigkeit die Geschichte bestimmt. Doch diejenigen, die Macht haben, leben nach einem anderen Gesetz: Überleben, Vorteil und Notwendigkeit. Das ist kein Zynismus. Es ist eine Offenbarung. Thukydides zeigt, dass Moral nur innerhalb eines Gleichgewichts zwischen Gleichberechtigten existiert. Gerechtigkeit kann funktionieren, weil beide Seiten Verluste verursachen können.

Macht ist die Voraussetzung für Moral

Wenn die Macht verschwindet, bricht auch die Moral zusammen. Die Athener haben das instinktiv verstanden. Sie betrachten Mitgefühl als Gefühl und nicht als Strategie. Sie wissen, dass Gnade, wenn sie falsch angewendet wird, das eigene Überleben gefährdet. Aus ihrer Sicht ist Mitleid ein Luxus, den sich die Mächtigen nicht leisten können. Für moderne Ohren mag das grausam klingen. Doch ist es heute wirklich anders?

Als Thukydides die Geschichte des Peloponnesischen Krieges schrieb, hielt er nicht nur Ereignisse fest. Er sezierte die Anatomie der Macht selbst. Seine Lehre war einfach. Diejenigen, die glauben, dass Gerechtigkeit die Starken leitet, leben in einer Traumwelt.

Die Griechen haben das schon lange vor uns verstanden. Sie erzählten Geschichten nicht, um zu moralisieren, sondern um die tragische Struktur der menschlichen Natur aufzudecken. In ihren Mythen handelten die Götter nicht aus Gerechtigkeit, sondern aus Macht. Zeus schlug zu, Athene täuschte und Poseidon zerstörte. Ihre Moral war keine göttliche Gesetzgebung, sondern göttliche Begierde.

Doch da ist noch viel mehr

Die griechische Mythologie zeigt uns die Vorstellung der Menschen jener Zeit vom Jenseits. Die Götter kümmerten sich kaum um die Menschen, sie folgten schlicht ihren Instinkten. Was die Menschen auch taten, wie sehr sie auch flehten und opferten, den Göttern war es fast immer einerlei. Die Griechen begriffen, dass sie sich nicht auf die Götter verlassen konnten. Also entwickelten sie Logik und Mathematik, um sich in dieser Welt orientieren zu können.

Melos ging unter, weil es glaubte, Gerechtigkeit könne Macht ersetzen. Die Schweiz steht heute an einem ähnlichen Scheideweg. Wollen wir den Preis der Anpassung zahlen oder den Mut der Eigenständigkeit wahren? Der Melier Dialog erinnert uns: Besonders wer klein ist, sollte sich den Luxus leisten, klar zu denken – und klar zu entscheiden.

 

Liebe Leser, Melos hatte keine Wahl – wir schon. Wie würden Sie entscheiden? Und teilen Sie die Einschätzungen unseres Autors oder sehen Sie das Verhältnis von Macht, Moral und Gerechtigkeit ganz anders? Schreiben Sie uns Ihre Meinung in die Kommentare.

 

© Bild: Paul Siegenthal

 

 

 

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