
Der folgende Artikel ist eine Replik auf den Kommentar «Leben und leben lassen» erschienen am 22. Juni 2025 auf stgallen24.ch
Das «nicht mehr leben und leben lassen» schleicht sich seit vielen Jahren in der westlichen Gesellschaft ein. Der Meinungskorridor wird immer enger. Dies passiert durch die Zunahme von Tabuthemen, über welche die «Meinungen gemacht sind», beziehungsweise «gemacht wurden». Im Umkehrschluss bedeutet dies, die Erkenntnis ist abgeschlossen, da darf keine Erkenntnis, keine weitere Sichtweise dazukommen, beziehungsweise keine Frage mehr gestellt werden.
Die Themenfelder sind hier schon so zahlreich, dass in diesem Artikel nur einige davon exemplarisch erwähnt werden können:
Corona: Das Narrativ ablehnen, bedeutete in eine Verschwörer- oder Schwurbler-Ecke gestellt zu werden. Wer die Webseite des Bundes gründlich studiert hat, konnte erfahren, dass Corona-, bzw. Maßnahmenkritiker in die Nähe von Terroristen gerückt wurden und als Staatsgefährder angesehen wurden.
Menschengemachter Klimawandel: Auch hier gilt die Devise, dass die Meinungen bereits gemacht sind. In ganz Europa und auch in der Schweiz gab es immer wieder Politiker, welche das Hinterfragen dieses Klima-Narrativs unter Strafe stellen wollten. Zum Glück ist dies noch nicht passiert.
Die Gender-Agenda: Dieser Bereich ist besonders bedenklich, da es bereits neue Gesetze gibt, welche ein traditionelles Verhalten, beispielsweise in der Ansprache seiner Mitmenschen, schon sehr gefährlich werden kann. In Deutschland kann die Ansprache mit «falschem» Geschlecht bereits rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Diese Narrative werden mit einem solch politischen Druck in die Gesellschaft eingeführt, dass die extremen Befürworter dieser Narrative sich berechtigt fühlen, zur Gewalt gegen Andersdenkende zu greifen. Es seien hier nur an die Aktionen von Extinction Rebellion erinnert, welche die Limmat grün einfärbten oder die Klimaaktivisten, welche in Zürich und Basel die Credit Suisse besetzten oder auch Straßen blockierten. Oft genug wurden solche extremen Supporter des politischen Willens dann auch juristisch mit Samthandschuhen angefasst, was zur Bestätigung von Intoleranz und Gewalt führt, wenn sie denn, dem politisch gewollten Narrativ folgt.
Compact & Co.: Zweierlei Maß
Wer jedoch nicht politisch korrekt und genehm berichtet oder argumentiert, wird oft nicht so sanft angefasst wie die Narrativ-Befürworter. Diese Erfahrung musste auch das deutsche Compact-Magazin machen, welches im Sommer 2024 von der damaligen Bundesinnenministerin Nancy Faeser verboten wurde. Nun zeigt sich in Sachen Meinungsfreiheit, zumindest für das Compact-Magazin, Licht am Horizont: Am heutigen Dienstag hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden und die Verfügung von Feaser aufgehoben. Die Begründungen sind spannend, es lohnt sich durchaus, das Urteil zu lesen. Der vorsitzende Richter Ingo Kraft begründete das Urteil unter anderem, damit, dass eine große Anzahl migrationsfeindlicher Äußerungen von Compact sich als überspitzte, aber im Lichte der Grundrechte durchaus zulässige Kritik an der Migrationspolitik deuten ließen. Zu weiteren Themen wie der Corona-Pandemie sagte er, Compact formuliere hier vor allem «polemisch zugespitzte Machtkritik», des weiteren auch «Verschwörungstheorien» und «geschichtsrevisionistische Betrachtungen». Doch auch sie genössen den Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit.
Ein Urteil, dass im ersten Moment alle Freunde der Meinungsfreiheit aufatmen lässt. Doch im nächsten Moment taucht auch die Frage auf, weshalb so etwas mittlerweile vor Gericht kommt und alternative Berichterstattung überhaupt so unter Beschuss ist?
Wer bin ich?
Eine wichtige Fragestellung, bezüglich der Herkunft dieser Intoleranz, ist jedoch die Identifikationsfrage!
Wer bin ich? Bin ich mein Körper? Die meisten Menschen würden wohl sagen «ich habe einen Körper». Bin ich meine Gedanken? Auch hier wird die Mehrheit wohl einstimmen, dass sie Gedanken haben. Bin ich meine Meinung? Die Meinung bildet sich aus Gedanken und diese werden durch Informationen gefüttert. Auch hier ist es wohl keine Offenbarung, wenn die These aufgestellt wird, dass es kaum ein Thema gibt, bei dem man alle Informationen hat.
Was bedeutet es nun, wenn eine Meinung dogmatisch gebildet und abgeschlossen ist? Es bedeutet, dass keine neue Information, keine andere Sichtweise dazu kommen kann.
Wenn ich mich jetzt noch mit meiner Meinung identifiziere «ich bin meine Meinung», bedeutet dies, dass wenn andere daran kratzen, ich in meinem Selbst erschüttert werde. Es ist eine persönliche, existenzielle Bedrohung. Das kann zur Gewalt führen. Wenn wir jedoch akzeptieren, dass unsere Meinungen, unser Denken nicht unserem persönlichen Selbst, unserem Wesen gleichzusetzen sind, bleiben wir offen. Wir haben die Chance zu entdecken unsere Zeit und Energie für etwas Falsches investiert zu haben. Haben wir unsere größten Lerneffekte nicht aus Fehlern gezogen?
Es bleibt uns stets Zeit, uns für «Richtigeres» einzusetzen – im Bewusstsein, dass die absolute Wahrheit wohl unerreichbar bleibt. Dieses Leben bedeutet ständiges Lernen – und das macht uns tolerant und verpflichtet uns offen für Debatten zu bleiben.
Lieber Leser, liebe Leserin, was denken Sie über das Compact-Urteil? Und wie steht es Ihrer Ansicht nach um die Meinungsfreiheit? Lassen Sie es uns in den Kommentaren wissen!
© Bild: Nightcafé (KI)
Kommentator Patrick Jetzer war schon zweimal Gast im HOCH2-Studio – hier können Sie sich die Videos anschauen:
Patrick Jetzer: «Ein neues Volk kann auch ohne eigenes Territorium entstehen»
Buch «Der Staat» von Patrick Jetzer