Rund 1 Million Menschen ersuchten im vergangenen Jahr in Europa um Asyl. So viele, wie seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2016 nicht mehr. Am meisten Asylanträge stellten Menschen aus Syrien und Afghanistan. Gemäss dem Staatssekretariat für Migration wurden 2022 in der Schweiz rund 24`500 neue Asylgesuche gestellt, 64 Prozent mehr als im Vorjahr. Die 20 Bundesasylzentren in der Schweiz sind hoffnungslos ausgelastet. Reguläre Asylsuchende mit Bleiberecht, werden nach einer 3- bis 4-monaGgen Aufenthaltsdauer in einem kantonalen Durchgangszentrum, proportional zur Bevölkerung auf die Gemeinden verteilt. Dazu kommen etwa 75`000 Gesuche von Menschen aus der Ukraine. Mit dem Schutzstatus S haben sie Anspruch auf Unterbringung, Unterstützung und medizinische Versorgung, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen. Sie dürfen ohne Wartefrist einer Erwerbstätigkeit nachgehen und bleiben für mindestens ein Jahr in der Schweiz. Kinder im Alter von vier bis 16 Jahren, die aus der Ukraine in die Schweiz eingereist sind, werden ab Beginn ihres Aufenthalts auch in den Schulen aufgenommen.
Schweizer Städte und Gemeinden sind jetzt schon am Limit angelangt. Sie sind rechtlich verpflichtet, die stark steigende Zahl von Flüchtlingen unterzubringen, doch es gibt viel zu wenig Wohnraum. Wie die «Aargauer Zeitung» schreibt, wird der Bund vom Schweizerischen Gemeindeverband kritisiert: Die Gemeinden hätten viel zu wenig Zeit, Unterkünfte zu organisieren. Nach einer Studie der Bank «Raiffeisen» droht wegen der hohen Zuwanderung in vielen Kantonen eine Wohnungsnot. Im Jahr 2022 verzeichnete die Leerwohnungsziffer den deutlichsten Rückgang seit 20 Jahren. Bis zum Jahr 2024 dürfte die schweizweite Quote von leeren Wohnungen die Ein-Prozent-Marke unterschreiten, was bedeutet, dass von durchschnittlich 100 Wohnungen weniger als eine leer ist.
In den Kantonen Genf, Zürich und Zug bewegen sich die Leerstandquoten für Mietwohnungen bereits heute deutlich unter einem Prozent. Bei der Leerwohnungsziffer findet sich die Schweiz im internationalen Vergleich mit Deutschland, England, Dänemark und den USA auf dem letzten Platz. Die zunehmende Verknappung bei steigender Nachfrage habe auch Auswirkungen auf die Mietpreise. Wer umziehe, werde schon bald mit deutlich höheren Anfangsmieten konfrontiert. Die deutlich anziehenden Hypothekarzinsen im ersten Quartal 2023 verteuern die Mietpreise zusätzlich. Mieten, die auf dem jetzigen Zinsniveau basieren, dürfen vom Vermieter zukünftig um rund drei Prozent erhöht werden. Wie «Raiffeisen» schreibt, müssen Mieter an manchen Orten bis zum Jahr 2024 gar eine Mietzinserhöhung um bis zu 10 Prozent hinnehmen.
Weil es kaum Wohnraum für Asylsuchende gibt, griffen einige Gemeinden auf eine Massnahme zurück, die bisher als Tabu galt: Die Kündigung von bestehenden Mietern. Ende Februar sorgte die Kündigung von 49 Mietern in der Aargauer Gemeinde Windisch für Aufsehen, weil dort minderjährige Asylsuchende untergebracht werden sollen. Der Eigentümer, die Firma «1dri`elAleph AG» aus dem Kanton Schwyz, habe die Kündigungen ausgesprochen, berichtete die Boulevardzeitung «Blick» Anfangs März. Man habe den Mietern nur deshalb gekündigt, weil die Liegenschaften wegen ihrem schlechten Zustand ohnehin abgerissen werden sollen, behauptet die Firma. Daraufhin habe der Kanton für eine «Zwischennutzung» über drei Jahre als Asylunterkunft angefragt. Die Vermietung an den Kanton scheint sich für die Immobilienfirma zu lohnen. Damit kann sie nämlich trotz Leerkündigungen ihre Mieteinnahmen sichern. Weil der Kanton Aargau im Januar den Asylnotstand ausgerufen hat, könnte er im Extremfall Notrecht geltend machen und die Mieterinnen und Mieter aus den Wohnungen werfen lassen.
Interessant ist die Tatsache, dass der CEO der Immobilienfirma, Barry Waisbrod, auch Geschäftsführer der «Baum Group Holdings AG» mit Sitz in Windisch ist. Warum Waisbrod die neue Holding vor drei Monaten gerade in Windisch domiliziert hat, und ausgerechnet an der Mülligerstrasse 13, wo die Kündigungen ausgesprochen wurden, verrät er nicht. Die Mieter beschäftigt noch eine anderer Frage: Zahlt der Kanton der Firma von Waisbrod höhere Mieten als bis anhin? Dies wolle die SVP Aargau nun von der Kantonsregierung wissen. Auf eine Anfrage unserer Redaktion antwortete Michel Hassler, Leiter Kommunikation des Departements Gesundheit und Soziales des Kantons Aargau:
«Gemeinden erhalten 9 Franken pro Tag und Person für die Unterbringungskosten. Private Liegenschaftsbesitzer erhalten die vereinbarte monatliche Miete für die Liegenschaft.»
Wie hoch diese vereinbarten Mieten im Einzelfall sind, bleibt hingegen unbekannt. Immerhin räumt der Kanton im Fall Windisch Fehler ein. In einer Pressemitteilung vom 1. März heisst es:
«Bei der Eignungsprüfung der Liegenschaft hat der Kantonale Sozialdienst des Departements Gesundheit und Soziales DGS, aufgrund von falschen Annahmen, den Auswirkungen der Kündigungen der Mieterinnen und Mieter keine Beachtung geschenkt. Das DGS will zusammen mit der Gemeinde Windisch und der Liegenschaftseigentümerin eine Lösung für die Betroffenen suchen.»
Auch in der Zürcher Gemeinde Seegräben wurde einem langjährigen Mieter gekündigt, um einer Flüchtlingsfamilie Platz zu machen. Im Kündigungsschreiben steht, dass man auf dem freien Wohnungsmarkt trotz intensiver Suche keine geeigneten Objekte finden konnte. Deshalb werde man nun die gemeindeeigene Fünfeinhalb-Zimmerwohnung für die Unterbringung von Flüchtlingen nutzen. Der Brief endet mit einem überaus grosszügigen Angebot: Sollte der Gekündigte schon vor Ende Mai eine neue Wohnung finden, darf er natürlich schon früher gehen.
Auf unsere Anfrage hat der Gemeinderat von Seegräben nicht reagiert. Wie die Gratiszeitung 20 Minuten berichtet, wäre die Kündigung gar nicht nötig gewesen. Denn die Gemeinde Seegräben habe die Aufnahmequote von Asylsuchenden bereits erfüllt. Eine Familie mit vier Personen, die inzwischen finanziell unabhängig sei und damit keine Asylfürsorge mehr beziehe, sei fälschlicherweise nicht mitgezählt worden, sagte der Gemeindeschreiber Marc Thalmann gegenüber 20 Minuten. Doch für den gekündigten Mieter ändert sich trotzdem nichts: Er muss weiterhin eine neue Wohnung suchen. Denn die Gemeinde rechnet wegen weiter steigenden Asylgesuchen zukünftig mit einer höheren Aufnahmequote. Mit der Kündigungsfrist werde man dem Mieter sicher entgegenkommen, verspricht Thalmann. Am 7. März hielten die Freiheitstrychler wegen dem «Fall Seegräben» eine Mahnwache ab und marschierten durch die Gemeinde. Das Mo`o: «Für eine vernünftige und mieterfreundliche Verwaltungspolitik.» Auch der gekündigte Mieter nahm daran teil.
Wie die «Neue Zürcher Zeitung NZZ» berichtet, soll auch in der deutschen Kreisstadt Lörrach 40 Mietern gekündigt werden, damit dort eine Flüchtlingsunterkunft entstehen kann. Die Entscheidung habe für Empörung gesorgt und treffe die Bewohner völlig unvorbereitet. Nach einer Anfrage unserer Redaktion bei sechs Kantonen, wurden mit Ausnahme von Windisch und Seegräben, bisher keinen Mietern gekündigt, um Wohnraum für Asylsuchende zu schaffen. Die Entschädigung für Besitzer von Liegenschaften, die Wohnraum für Asylsuchende zur Verfügung stellen, sei abhängig von individuellen Vereinbarungen, heisst es. Alle Kantone berichten, dass sie laufend nach zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten suchen.
Das Staatssekretariat für Migration SEM geht davon aus, dass ab Frühling dieses Jahres die Zahl von regulären Asylgesuchen noch stärker ansteigen wird. Entscheidend sei, wie sich die Migration aus der Türkei nach Griechenland und Bulgarien und die anschliessende Weiterwanderung über die Balkanroute entwickelt. Was die Schutzsuchenden aus der Ukraine betrifft, sei die Prognose schwierig. Im wahrscheinlichsten Szenario geht das SEM davon aus, dass bis Ende März dieses Jahres monatlich zwischen 2500 bis 5000 neue Anträge für den Status S gestellt werden. Sollten weitere Kantone den Asylnotstand ausrufen, und sich die jetzt schon prekäre Lage am Wohnungsmarkt weiter verschärfen, könnte es zu zwangsweisen Mietkündigungen unter Notrecht kommen. Das Notrecht kennen wir bereits aus der Corona-Zeit, wo vieles möglich wurde, was bis dahin als undenkbar galt.